“Chemie-Fan bei Polizeieinsatz auf Zaun aufgespießt – Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen ein
Ein 29 Jahre alter Fan des Vereins BSG Chemie Leipzig wird im Februar schwer verletzt, als Polizisten ihn von einem Zaun ziehen. Nun hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen die Beamten eingestellt – der Verletzte und sein Verein sind empört.
Potsdam
Die Szenen, die ein Kameramann am 16. Februar zufällig im Fürstenwalder Stadion filmte, sind schmerzhaft anzuschauen: Bereitschaftspolizisten wollen den 29 Jahre alten Nils, Fan des Regionalliga-Vereins BSG Chemie Leipzig, von einem Zaun des Gästeblocks ziehen. Die Stahlspitzen der Absperrung bohren sich in den Unterschenkel des Mannes. Er schreit buchstäblich wie am Spieß, die Jeans reißt auf, Blut läuft aus der klaffenden Wunde. Man mag kaum hinsehen. Es dauert quälend lange Sekunden, bis man ihn von den Zacken hebt.
Ein halbes Jahr später ist der Sachse immer noch gezeichnet von dem Vorfall am Rande des Regionalliga-Spiels. Dreimal musste er unter Vollnarkose operiert werden. Die Wunde entzündete sich, der um sich greifende Gewebetod (Nekrose) zwang die Ärzte, Hautlappen zu transplantieren. Die Mediziner im Helios-Klinikum Bad Saarow schreiben, die 15 mal 15 Zentimeter große, triangelförmige Wunde sei „als kritisch zu betrachten“.
Drei Operationen unter Vollnarkose
Vier Wochen liegt der Leipziger insgesamt im Krankenhaus, bei der zweiten Operation zieht er sich eine Verbrennung am Hoden zu. Zwei Monate verbringt er liegend, wochenlang muss ihn ein mobiler Pflegedienst versorgen. Die Rechnungen für Physiotherapie und andere medizinische Leistungen stapeln sich – 1000 Euro Selbstbeteiligung.
Und doch hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen die beteiligten Polizisten eingestellt. Es liege kein hinreichender Tatverdacht vor, teilte die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) dem Verletzten Mitte August mit. Bei dem Betroffenen und seinem Heimatverein Chemie Leipzig sorgt diese Einstellungsverfügung für Empörung.
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„Ich verstehe nicht, wie man bei einer solchen Beweislage das Verfahren einstellen kann“, sagt der verletzte Fußballfan. „Die Videoaufnahmen sind glasklar, man sieht alles.“ Offenbar werde versucht, „das Geschehen zu verharmlosen“, sagt der Leipziger. „Man erkennt null Einsicht – ich finde das krass!“ Die Staatsanwaltschaft wolle offensichtlich die Polizeibeamten schützen.
Fast eins zu eins habe die Strafverfolgungsbehörde die Formulierungen der Polizisten-Anwälte übernommen – „copy und paste“ (Kopieren und Einfügen – die Red.), nennt das der Leipziger Anwalt Christian Friedrich, der das Opfer vertritt. Er hat Beschwerde eingelegt und will die Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen die Polizisten wegen Körperverletzung im Amt erreichen.
Parallelen zum Übergriff auf Pressefotografen
Die Angelegenheit weist Parallelen zum gewaltsamen Übergriff eines Brandenburger Polizisten auf den Pressefotografen Julian Stähle auf, der derzeit Staatsanwaltschaft, Polizeiführung und den Landtag beschäftigt. Erstens: Es gibt Video-Aufnahmen vom Hergang, die im Gegensatz zu den S.rungen der Beamten stehen. Zweitens: Die Polizei hat auch im Fürstenwalder Fall – zumindest legt dies ein Video nah, das der MAZ vorliegt - überreagiert und ist unangemessen gewalttätig vorgegangen.
Drittens: In beiden Fällen versuchten Polizisten, den Spieß umzudrehen und die mutmaßlichen Opfer zu Tätern zu stempeln. Journalist Stähle wurde wegen angeblichen Widerstands gegen Vollzugsbeamte sogar vor Gericht gezerrt (und dort freigesprochen). Der Leipziger Fußballfan wurde zunächst von der Polizei öffentlich bezichtigt, er habe sich „mit Schlägen und Tritten verletzt und die Beamten beleidigt“. Später nahm das Präsidium diese Einschätzung nach Protesten komplett zurück.
Fanbetreuer ist ratlos
Zur Einstellung des Verfahrens behauptet die Staatsanwaltschaft, es „fehle an einer konkret nachweisbaren Körperverletzungshandlung“. Keinem der Beamten sei ein Fehlverhalten anzukreiden. Dabei sind die Filmaufnahmen vom Vorfall definitiv keine verwackelten Handybilder. Trotzdem schreibt der zuständige Staatsanwalt dem Anwalt des Fußballfans, auf den Videoaufnahmen sei „nicht zu sehen, dass einer der Beschuldigten Ihren Mandanten aktiv vom Zaun heruntergezogen hat“. Wer den Film sieht, der auf MAZ-online veröffentlicht ist, muss sich über solche Aussagen wundern.
Beim Leipziger Fanbetreuer Sebastian Kirschner hat die Einstellung des Verfahrens „einiges an Ratlosigkeit erzeugt. Das oft reproduzierte Feindbild Polizei lässt sich durch solch einen Umgang für uns nur sehr schwer abbauen“, sagt der Sozialarbeiter. Eigentlich wäre gerade bei Polizisten „eine selbstkritische Aufarbeitung der Ereignisse vom Februar das Normalste der Welt“, so der Fanbetreuer. Die Behörde müsse eine „öffentliche Fehlerkultur“ entwickeln.
Polizeipräsidium lässt sich Strafakten kommen
Das Polizeipräsidium hatte nach Aussage von Sprecher Torsten Herbst keine Disziplinarverfahren gegen die beteiligten Beamten eingeleitet. Man habe das Ergebnis des Strafverfahrens abgewartet und nun die Strafakten angefordert. Jetzt werde „der Sachverhalt dienstrechtlich auf Vorliegen etwaiger Pflichtverletzungen geprüft“, so Herbst.
Der verletzte Fußballfan hat inzwischen eine Arbeit als Lackierer und Monteur im Leipziger Porsche-Werk aufgenommen. Fast hätte er den Job nicht antreten können - wegen der Verletzung. Nun läuft er jeden Tag 10.000 Schritte durch die Montagehallen – trotz der Riesendelle im Bein. „Ich habe Glück gehabt, wenige Zentimeter neben der Verletzung lag die Hauptschlagader“, sagt Nils. „Da kann man in wenigen Minuten verbluten.“
Der Chef des Innenausschusses im Brandenburger Landtag, Andreas Büttner (Linke) sieht den Fall als einen weiteren Grund, einen unabhängigen Landes-Polizeibeauftragten einzusetzen und beim Landtag anzusiedeln. „Es verwundert mich, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hat, obwohl die Beweislage aus meiner Sicht klar ist“, so Büttner. „Es hätte zu einer Hauptverhandlung kommen müssen.“ Die Regierungsparteien haben ebenfalls die Einrichtung eines Ansprechpartners für Bürgerbeschwerden in ihren Koalitionsvertrag geschrieben – allerdings soll die Stelle beim Innenminister angesiedelt sein. Der ist der Dienstherr aller Landespolizisten“.
Quelle: LVZ