Autor Thema: 9.10.1989 - Durch die grün-weiße Brille gesehen  (Gelesen 1461 mal)

Offline Milliwall

  • OberBOM(sine)
  • ***
  • Themen-Ersteller
  • Beiträge: 142
    • Profil anzeigen
9.10.1989 - Durch die grün-weiße Brille gesehen
« am: 09. Oktober 2017, 12:54 »
Heute vor 28 Jahren (also nach Adam Ries kein Jubiläum) demonstrierten erstmals viele Leipziger und im LVZ-Jargon Zugereiste für einen Wandel in der DDR, darunter nicht wenige Polizei bekannte und Polizeigewalt erfahrene BSG Chemie Leipzig-Fans.

Auch in der Vorbereitung der Wende erfolgten die wichtigsten Tätigkeiten durch Chemiefans, ob als NVA-Soldat, inoffizieller MfS-Spitzel oder richtiger Oppositioneller, manche waren durchaus in Mehrfachfunktion unterwegs. Denn es begann ja alles schon viel früher, als das Stasi-Museum uns weismachen will, das nicht einmal die wichtigste größere Oppositionsbewegung namens Chemie-MOB thematisiert.

Zu den DDR-Zuständen in infrastruktureller Hinsicht ist schon vieles gesagt und geschreiben worden, die wohl das Grundübel darstellten. Denn im familiären Kreis konnte man jederzeit seine Meinung sagen, man musste auch kein FDJ-Hemd tragen geschweige davon, dass Pfarrerskinder gezielt diskriminiert wurden.

Nun zu Chemie.

Für mich begann es im Herbst 1982, mit der Familie Uder (die Stadt Uder ist das Auffanglager für Ostflüchtlinge) fuhr ich erstmals als 12-Jähriger voller Hoffnung nach Altenburg (wo unter anderem ein ernestinisches Schloss steht, aber auch das Spielkartenmuseum sollte man besucht haben), da das Gerücht die Runde machte, es würde dort zu einer ersten Volkserhebung kommen. Nach Spielende bei Motor Altenburg wartete ich sehnlichst auf ein Zeichen, doch es war einfach NICHTS los, außer, dass ich als Enziger über der Zaun machte und über den Sportplatz lief. Nichtdestotrotz verfolgte ich jedes Auswärtsspiel der BSG mit der Hoffnung, dass es endlich mal wie in Polen losgeht. Außerdem ließen mich auch persönliche Interessen in ästhetischer Hinsicht an Chemie kleben, es gab viel Auswahl wie heute ja schon wieder:-)

Fast jedes Spiel war für den einzelnen Fan ein großer Freiraum im Land der begrenzten Möglichkeiten der öffentlichen Meinungsbekundung, ohne dass ich nur ansatzweise eine Ahnung hatte, dass ausgerechnet der fingierte Polizeieinsatz in Jena nach dem Pokalspiel 1982 eine sehr große Rolle spielen sollte. Polizeiwagen wollten mit Absicht sitzende Chemiefans in Jena-Paradies überfahren, die aber wie durch ein Wunder immer wegspringen konnten. Damit war der innere Bruch mit der DDR besiegelt. Da ich seit meiner Geburt (unwissentlicherweise) überwacht werde, konnte ich nicht ahnen, dass die DDR-Staatsorgane gerade das extra für mich aufführen ließen, musste ich doch im August 1989 einen atomaren Sprengkopf in Rekordzeit an einen Träger schrauben, der es dem Warschauer Pakt ermöglicht hätte, den atomaren Erstschlag auszuführen, ein nicht unerheblicher Kriegsvorteil.

Nach dem Besuch eines der ersten Friedensgebete 1982 kam ich nicht umhin festzustellen, dass Gebete Stuss sind und man es endlich richtig angehen lassen muss, wenn man keinen Krieg will. Ich fühlte mich irgendwie berufen. Bei einem Karnevalsumzug in Mainz oder Köln kam ich auf die Idee, mit einem Regenschirm die Süßigkeiten aufzufangen. Da ich aber im Osten wohnte, war dies ohnehin nie möglich, so dass ich weiter sinnierte und just in diesem Moment darauf kam, einen Anti-Atomraketenschirm zu entwickeln. Ich wusste um die hohe energetische Dichte von Laserstrahlen, fügte ich mir doch mit einer Lupe als Kleinkind immer Selbstverbrennungen zu. Raumfahrzeuge gab es schon, man musste nur noch die Sonne anzapfen und sämtliche Flugzeuge neu bauen, da Laserstrahlenwaffen nicht zwischen Rakete und Flugzeug unterscheiden konnten, da diese mit Infrarot-Steuerung funktionieren.

Die Stasi organisierte mit Absicht, dass Chemie in der Nordstaffel spielen musste, damit ich immer am Tag X daran denke sollte, dass für mich das DDR-System nicht zu verteidigen war.
Für den 9.10. hatte ich im Übrigen die Befürchtungen eines Reinfalls, da sich am 7.10. in Leipzig denkwürdige Szenen abspielten. Vor dem Polizeirevier in der Ritterstraße stand gerade mal EIN Robur und die Polzisten stiegen völlig ohne jegliche Hektik auf die Ladefläche. Noch am 8.10. kam ich auf den Gedanken eines Aufrufs, der in der LVZ am 9.10. erscheinen sollte, damit auch wirklich viele kommen. Demonstrationen in der DDR sollten vor allem dazu dienen, Sicherheitskräfte vom Soldat der NVA bis zum SED-Funktionär zu binden, damit man einem möglichen Befehl der sowjetischen Besatzungsarmee ausweichen konnte, die noch in den Herbsttagen Westeuropa angreifen wollten, wie schon 1953, 1956 und 1968.
Außerdem musste man Kollegen des MLK-Werks in Plauen kontaktieren, die in Grenznähe einige Tage früher den Aufstand probten, ich brauchte die Gewissheit des Nichtagierens der Roten Armee. Auch in Leipzig gab es eine Meldesystem, notfalls wäre alles abgeblasen worden, aber der Montag galt als einzig sicherer Tag, da in den Armeeeinheiten des Warschauer Pakts immer Parteikonferenzen stattfanden und somit wichtige Befehlsgeber zeitlich wie örtlich gebunden waren.

Bis zum Jahre 1989 musste also noch viel baulich gestaltet werden (z.B. mögliche Kriegsgefangenenlager für Sowjetsoldaten - z.B. die Wiprechtsburg in Groitzsch - bis zu Landepisten für Nato-Flugzeuge auf Ostblockboden - z.B. der Hungaroring in Budapest), es hat sich auf jeden Fall für alle gelohnt. Fast für alle. Und fast für alle Autobahnen, die nun endlich fertiggestellt werden können,  - nach dem wohl größten Waffendiebstahl der Militärgeschichte in der Ost-Ukraine.

Trotz jahrelanger Überwachung schrieb ich noch im Herbst 1989 ein Arbeitsplatzkonzept für ehemalige Angehörige der Staatsorgane, war man doch bei der NVA doch sehr freundlich miteinander umgegangen. Leider war meine Tätigkeit als Militärberater mit dem Erfolg der Revolution noch nicht beendet. Aber ich schrieb es schon 1983, dass man notfalls 50 Jahre benötigt, um einen Atomkrieg zu verhindern. Dazu sollten die klügsten Menschen notfalls eingesperrt werden, damit sie sich voll dieser Aufgabe widmen. Mit derm besten Matheabitur als 16-Jähriger gehörte ich leider dazu, auch wenn es nur eine heruntergekommene LWB-Plattenbauwohnung in einem Lok-Gebiet war.
« Letzte Änderung: 09. Oktober 2017, 13:10 von Milliwall »