Chemie Leipzig in Ostberlin - Chronik eines historischen Tages
Morgen ist schon wieder das nächste Heimspiel, doch im Kopf war ich die ganze Woche nur in Berlin. Was war das für ein Tag, der bis vor Kurzem nicht einmal in unseren Träumen vorkam?
Eine Chronik in vier Kapiteln.
Der ersehnte Sonderzug, jedenfalls 70% davon
Selten hat ein Ereignis die chemische Fangemeinde so elektrisiert wie die Sonderzugfahrt. Auf die bange Frage, ob das denn gewünscht und realistisch sei, folgte eine Antwort, wie sie klarer nicht ausfallen konnte: Ausverkauft! Was, ausverkauft? An diese Arschlöcher da drüben? Ja, das dachte ich irgendwann auch, als ich im dritten VVK-Anlauf immer noch keine Karte für mich und meinen Kumpel besaß, aber ich konnte mich auf meine Familienblock-Connection verlassen und hatte 7 Tage vor der Abfahrt mein ersehntes Ticket in den Händen.
Wenn man zu aufgeregt ist, um noch einen anderen Gedanken als Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin zu denken, verbringt man die Zeit am besten in Gesellschaft. Also machte ich mich gut ausgeschlafen am Sonntag morgen 8.00 auf zum S-Bahnhof, die fast menschenleer war. Nichts in der Stille der Stadt verriet etwas von den großartigen Erlebnissen, die dieser Tag bringen sollte. Erst als sich am Hauptbahnhof der Querbahnsteig vor uns auftat, kam eine erste Ahnung auf, daß das heute wirklich außergewöhnlich werden wird. Schon eine Stunde vor Abfahrt standen wir in einer Traube junger und alter Leute, wie ich sie zu Auswärtsfahrten nach Heidenau, Riesa oder Jena nie gesehen habe. Und minütlich kamen weitere dazu. Die Stimmung war irgendwas zwischen verschlafen und erwartungsvoll, jedenfalls hatte man es nicht nötig, die Bahnhofshalle zum Dröhnen zu bringen. Fleißige Ultras schieben Sackkarren voller Bierbüchsen durch die Bahnsteighalle. Geduldig warteten 800 Zugfahrer auf Einlaß zum Bahnsteig, da ertönte die Kunde vom fehlen zweier Waggons. Na, das kann ja kuschelig werden, war der erste Gedanke, naja, paßt ja zum leicht chaotischen Ruf der Chemiefans, war der zweite. Mit den fehlenden Waggons war auch die geplante Wagenaufteilung dahin und damit meine Vorstellung von einer Art Leutzscher Freundeskreis-Miliz, die die Gänge abschreitet und jeden zusammenscheißt, der es wagt, seine Schuhe auf den Sitz gegenüber zu legen oder einen Kronkorken fallen zu lassen.
Als wir uns im Kopf schon mit eine Fahrt im Gang oder Stehen abgefunden hatte, fanden wir tatsächlich noch Platz neben einem Bekannten aus der Kirchgemeinde, in den Sitzreihen am Treppenaufgang. Die Tücke dieser Plätze sollte uns erst später gewahr werden, denn es dauerte nur 20 Minuten, also kurz nach dem wir dachten, man hätte uns im Bahnhof Altwiederitzsch aufs Abstellgleis geschoben und unserem Schicksal überlassen, da reichte die Kloschlange schon die Treppe hinauf bis vor unsere Plätze. So war es zunehmend mühsam, sich mit seinem Gegenüber zu unterhalten, weil immer genervte, harngedrängte Personen dazwischenstanden. In Spitzenzeiten fehlten nur noch 5 Meter, und die Schlangen zu beiden Waggonenden hin hätten sich in der Mitte berührt. Eine Unannehmlichkeit, die mit zwei weiteren Waggons auch entspannter gewesen wäre. Als es nach dem dritten Vorglühbier auch für mich kein warten mehr gab, machte die Botschaft alternativer Urinale zwischen den Waggons die Runde, eine zugegeben sehr hygienische und erleichternde Erfindung (angeblich meiner Reisenachbarn). Mit knapp einer Stunde Verspätung fuhren wir in Berlin-Gesundbrunnen ein.
Die friedliche frün-weiße Invasion
Schien die Menge an Mitreisenden, auf den Waggon in dem wir fuhren beschränkt, noch überschaubar, ergoß sich nun die Masse auf den Bahnsteig und fülle ihn komplett aus. Schon beim Einfahren ertönten erste Freundengesänge, die jetzt auf dem überdachten Bahnsteig zum Donner heranwuchsen. Mit brachialer Wucht knallten uns Hurra, die Leutzscher die sind da und Wir hassen den BFC um die Ohren. Berauscht an diesem Klang und der eigenen Überzahl zog sich eine singende und klatschende Prozession durch die überdachten Bahnhofszugänge bis zum Treffpunkt an der großen Straßenbrücke. Daß zu diesen Zeitpunkt schon weitere hunderte Chemiker am Bahnhof auf uns warteten und einstimmten, war mir in diesem lauten Gedränge gar nicht klar. Erst als sich der gesamte Zug auf der Brücke in Bewegung setzte und ich winzig klein am Ende der Brücke die zwei Fahnen der Ultras erblickte, wurde mir das Ausmaß dieses Marsches bewußt: Weit über tausend Chemiker liefen nun durch die Straßen eines Wohngebietes dem Stadion entgegen, teils singend, skandierend, teils entspannt-genießend. Von jedem zehnten Balkon, aus jedem zehnten Fenster schauten Schaulustige auf uns herab, Rentner staunten, Kinder winkten und wir winkten zurück. Immer wieder schwollen Gesänge an, allen voran aahoohaaheeh, wir hassen den BFC, wir holen den FDGB-Pokal und wir werden Deutscher Meister und zerrissen die sonntag-mittagliche Ruhe zwischen den Häusern.
Die Polizei blieb kaum wahrnehmbar, offenbar gut organisiert und freundlich. Besonders vor ihren geschätzt 30 Jahre alten Einsatzwagen vorm Stadion, die Assoziationen mit einem Oldtimertreffen aufkommen ließen, wirkten die Beamten irgendwie sympathisch-lässig.
Der letzte Weg zum Stadion führte uns auf einer sehr belebten Straße entlang, eine Art Flohmarkt schien es da zu geben. Und links und rechts standen, aufgereiht wie an einer Radrennstrecke, Passanten und filmten und guggten und bestaunten die vorbeiziehende Anhängerschar. Daß ins Olympiastadion und die Försterei Gästefans einziehen, dürften die dortigen Anwohner gewöhnt sein. So einen Zug zum, seien wir ehrlich, fast immer menschenleeren Jahnsportpark, dürfte es eher selten geben.
Man kann es nicht anders sagen: Es war eine friedliche Invasion der BSG Chemie Leipzig in Berlin. Was zunächst widersprüchlich klingt, bringt die Stimmung auf den Punkt: 1300 Menschen, die dicht an dicht, Arm in Arm, ihre Liebe bezeugen, 200 km weit reisen, zu einem Spiel, das traditionsreich, aber sportlich eher unbedeutend ist, sind eine Machtdemonstration. Eine Invasion, die maximal noch ein Mitkonkurrent, Energie Cottbus, auswärts auf die Beine bringt, und das weniger stimmgewaltig. Dieser Auftritt katapultiert uns, was die Auswärtsfahrten angeht, endgültig zurück in die Sphären der großen Oberligaclubs, auf Augenhöhe mit Carl-Zeiss, Erfurt, Halle, FCK und Wismut Aue.
Und gleichzeitig lag bei diesem Marsch so wenig Gewalt in der Luft wie bei einem Straßenfest. Die Polemik gegen den BFC war rein nostalgisch, genießerisch, überlegen, entspannt. - Eben eine friedliche Invasion!
Das Spiel - oder was man davon mitbekam
Der BFC Dynamo ist für sein Stadion nicht zu beneiden. Es ist für diesen Club etwa so geeignet wie eine Eckkneipe für die Ausrichtung einer pompösen Hochzeit. Immerhin sorgte der Veranstalter mit Absperrnetzen dafür, daß wir uns nicht über die ganze Kurve verteilen konnten, das war dem Gemeinschaftserlebnis und der Stimmung sehr zuträglich. So entstand ein kompakter Block aus 1300 Gästen, die ihre Mannschaft unterstützten, wie es bei einem zunehmend ungünstigen und hoffnungslosen Spielverlauf nur möglich war. Die BFC-Anhänger wirkten dagegen eher hingekleckst ins weite bunte Rund, ca. 400 auf der riesigen Haupttribüne, ca. 1500 locker verteilt auf der Gegengerade, nur ein kleiner fahnenschwenkender und gelegentlich singender Block junger Leute hob sich ab. Insgesamt hatte ich mit mehr Zuschauern aus Berlin gerechnet, steht Dynamo doch immerhin auf Platz 2 und erscheint es doch als Saisonhighlight, wenn es nach über 30 Jahren ein Wiedersehen der verhaßten Rivalen gibt. Wahrscheinlich trägt, im Gegensatz zur geilen Alten Försterei, auch das dürftige Stadionerlebnis zur tristen Kulisse bei den Berlinern bei.
Weit schlimmer noch als die Verzwergung der Zuschauer in diesem riesigen Rund war jedoch der Abstand zum Spielfeld. Gefühlt befand sich das hiesige Tor auf Höhe der Mittellinie im AKS und auf Höhe des Mittelkreises im Jahnsportpark begönne in Leutzsch schon der Gästeblock. Von meinem Platz in der 10. Reihe aus verschmolz die Latte des vorderen Tores fast mit der Grundlinie der hinteren Hälfte. Ob ein hoher Ball in Richtung Gegner- oder eigene Hälfte flog, konnte man nur beim erneuten Aufkommen auf dem Rasen feststellen, Vor- oder Rückwärtsbewegungen der Spieler nur erahnen. Ernüchtert von diesen Bemühungen das Spiel zu verfolgen, kehrte ich mich mit zunehmender Dauer vom Spielgeschehen ab, die Führung für den BFC wirkte ja auch zementiert. Die Stimmung nahm jedoch, ganz nach trotziger Cottbus-Manier, fahrt auf, gegen Ende hörte man nurnoch die Chemiker und spätestens mit dem Schlußpfiff stimmten alle 1300 Leutzscher in den legendären Treuegesang Grün und weiß ein Leben lang ein. Was dann folgte war ziemlich surreal und sprach wohl Bände für die Situation beider Vereine:
Zügig verabschiedete der Stadionsprecher die Anwesenden, die siegreichen Spieler liefen noch kurz vor der Gegengerade entlang und eh man sich versah, waren alle Berliner von den Rängen verschwunden. Nach einem klaren 3:0-Sieg für die Heimmannschaft! Ein kleiner, vorher noch fahnenschwenkender Rest hielt noch die Stellung, war aber nicht mehr zu vernehmen und wirkte desillusioniert, angesicht dessen, was sich in der Gästekurve abspielte. Minutenlang und extatisch feierte Chemie die Spieler, den Verein, die Treue, die Gemeinschaft, jung und alt, Kutte und Ultra, wieder einmal waren alle vereint in ihrem Stolz auf das bisher erreichte und eine Mannschaft, die nie aufgehört hat, nach vorn zu spielen und zu kämpfen. Und ja, natürlich war uns allen klar, daß es wohl keinen Punktsieg zu feiern geben wird. Was allen derzeit auszureichen scheint ist das Gefühl, daß Chemie wieder da ist, vielleicht stärker als zuvor, wieder Kult ist, so jung ist, so laut ist, bestaunt wird, wahrgenommen wird, daß es einfach seit Jahren unheimlich Spaß macht, diesem Verein Woche für Woche zu folgen.
Perfekt ins Trauerbild, das der einst so stolze BFC abgab, paßten zwei Satire-Einlagen in der Halbzeitpause. Da stimmte doch der Stadionsprecher tatsächlich per Mikrophon ein Geburtstagsständchen an, häääpi bööörsdäi tu juuh in herrlichstem preußenenglisch und niemand zog mit, sodaß dieser verkorkste Versuch im Gelächter der Chemiker unterging. Und eine alte BFC-Legende lobte die Chemieelf über den grünen Klee und bescheinigte Dynamo, daß sie mit der gezeigten Leistung nicht besonders weit kämen. Sehr zum Vergnügen der Gästefans, die sich in der Pause reichlich an den gut organisierten und ausreichenden Getränke- und Grillständen bedienten. 5-10 Minuten Wartezeit in der Halbzeit gehen in Ordnung.
Kraftlos nach der Party - Die Heimfahrt
Der Rückweg nach dem Spiel lief reibungslos und unaufgeregt ab, da konnten auch ein paar fäusteschwingende Befis auf einem Hügel nichts dran ändern. Ruhig und vergnügt spazierten alle durch das Wohnviertel zurück zum Sonderzug, der starke Auftritt kostete Kraft und der Adrenalinspiegel vermochte den Alkoholpegel nicht mehr zu überspielen. So sah man im Zug überwiegend verbrauchte Gestalten auf ihren Sitzen hängen. Das Bier, es waren wohl 4000 Büchsen tschechisches Dosenpils, war schon zur Ankunft in Berlin aufgebraucht, sodaß man sich jetzt, schädel- und nierenfreundlich mit Radler oder Cidre behalf. Der Harndrang war nicht mehr das bestimmende Thema sondern der Kampf gegen das Wegpennen und über allem lag das wohlige Gefühl, etwas Großartiges geschafft und erlebt zu haben.
Nach Einbruch der Dunkelheit erreichten wir Leipzig Hbf, ein kurzer akustischer Gruß an die Stadt hallte noch einmal auf, auflauernde Lokhools waren auch nicht zu sehen, so daß, zumindest für mich, dieser gemeinsame Tag hier sein Ende nahm.
Was bleibt von dieser Fahrt in die Hauptstadt? 0 Punkte, eine gedemütigte Mannschaft, ein leeres Portemonnaie? Keine Spur! Als wir Leutzscher Freunde uns vor 7 Jahren gefunden haben, in der IG Vereinigung, haben wir viel von unseren Träumen und Hoffnungen erzählt, die wir mit einem Neustart als BSG Chemie verbinden. Spätestens in diesem Jahr ist ALLES, absolut ALLES in Erfüllung gegangen, was wir uns damals für die nächsten 10-20 Jahre erträumt haben. Wir sind unabhängig, wir sind schuldenfrei, wir sind die (schlimmsten) Nazis los, wir Fanatiker führen diesen Verein, wir sind mitgliederstark wie der FC Sachsen, haben mehr Mannschaften als Finger an den beiden Händen, haben die parasitäre SGL bezwungen, haben den AKS als unser Wohnzimmer, modernisieren endlich, haben ungezählte Familien und Kinder im Stadion, haben die Meistermannschaft zu Tränen gerührt, haben uns aus der Bezirksliga über die Dörfer noch oben gekämpft, haben mit 7000 Leuten den Aufstieg gefeiert, spielen in der Vierten Liga, haben 1000 Dauerkarten verkauft, das echte Derby erlebt, Babelsberg im AKS besiegt, das Stadion der Freundschaft gerockt, und sind diese Woche mit einer 1300 Mann starken Gemeinschaft durch Berlin gezogen, unserer Mannschaft den Rücken gestärkt und unsere tiefe Liebe zu Chemie bezeugt! Seit 7 Jahren gehen wir unbeirrbar unseren Weg, es macht mich so stolz und glücklich mit euch allen diesen Weg zu gehen und jeder der immer noch gegen uns ist, darf uns mal zünftig am Arsch lecken! AMEN!