Als studierter Historiker find' ich solche Themen - und ihre journalistische Aufarbeitung - immer interessant und würde mir dazu auch nochmal einen Kommentar erlauben. Zunächst einmal schreibt Herr Laurin (der Autor des Jungle-World Artikels) einfach nur recht pauschal, Alfred Kunze sei seit 1937 NSDAP-Mitglied gewesen. Diese Aussage belegt er nicht, was an sich erstmal OK ist, weil Fußnoten mit Quellenbelegen in Zeitungsartikeln halt unüblich sind, aber es gibt eben einen Unterschied zwischen einfachen Presseartikeln und wissenschaftlichen Fachtexten, und entsprechend unterschiedlich sind solche Texte auch zu gewichten. Nun bezweifle ich, dass Herr Laurin, der ja noch weitere Beispiele für von ihm behauptete Stadionbenennungen nach NSDAP-Mitgliedern anführt, in jedem einzelnen Fall in der NSDAP-Mitgliederkartei und der Gaukartei, die im Bundesarchiv vor Ort eingesehen werden können, recherchiert hat, sein impliziter Beleg scheint - ich lasse das unkommentiert - der Wiki-Artikel zu Alfred Kunze zu sein, in dem es im Abschnitt "Leben und Wirken" heißt: "Kunze war von 1937 bis 1945 Mitglied der NSDAP und Inspekteur bei der Wehrmacht" (aufgerufen am 4.10.2018). Belegt wird diese Äußerung durch einen Verweis auf folgendes Buch: Leske, Hanns: Erich Mielke, die Stasi und das runde Leder. Der Einfluss der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit auf den Fussballsport in der DDR, 2. Aufl. Göttingen 2014 (in diesem Fall S. 268-269). Ich besitze das Buch nicht und es scheint auch derzeit vergriffen zu sein, wenn es hier jemanden gibt, der/die es hat, könnte er/sie ja mal reinschauen, ob es da einen belastbaren Quellenbeleg (Eintrag in der Mitgliederkartei, der Alfred Kunze mit Sicherheit zugeordnet werden kann) gibt. Würde mich interessieren.
Das wäre zumindest der erste Schritt, wenn dem so ist, müsste man natürlich in einem zweiten Schritt prüfen, ob sich anhand von Quellen nachweisen lässt, dass Kunze in der Partei mehr war als eine Karteileiche.
Anderseits zeigt es natürlich auch geradezu exemplarisch, wie kompliziert Geschichtsbewusstsein und kollektives Gedächtnis funktionieren. Als Historiker würde man analytisch unterscheiden zwischen einer historischen Person "Alfred Kunze", die es faktisch zwar gegeben hat, der wir uns aber nur durch Quellenstudium, Zeitzeugenbefragung u.ä. "annähern" können, ohne sie je in jeder Hinsicht erfassen zu können, einerseits und der im kollektiven Gedächtnis imaginierten Person "Alfred Kunze", die an das historische Faktum der Meisterschaft von 1964 und ihre - aus einer bestimmten Perspektive empfundenen - Begleitumstände anknüpfend zur Projektionsfläche aller möglichen für den Verein und seine Fans sinnstiftende Ideale geworden ist, anderseits. Dabei geht es aber nicht darum - das wird nämlich von Nicht-Historikern oft missverstanden! -, zu sagen, dass das eine "richtig" und das andere "falsch" ist, sondern eher, zwei (oder besser: mehrere) verschiedene Ebenen von "Realität" zu unterscheiden und sie nicht zu vermengen. Selbst wenn Alfred Kunze (die historische Person) in der NSDAP ein wirklich aktives Parteimitglied war, ist das Stadion in Leutzsch ja nicht deswegen nach ihm benannt, die Bennenung bezieht eben sich ganz eindeutig auf den "Alfred Kunze", der im kollektiven Gedächtnis der Chemie-Anhänger konstruiert wurde, nämlich im Wesentlichen den Meistertrainer von 1964 und die mit ihm vage assoziierten "Leutzscher Tugenden". Den Fehler, diese Ebenen zu vermischen, muss man Herrn Laurin, der offenbar kein Historiker ist ;-), schon attestieren, weil sich sein Artikel für jemanden, der mit dem Leipziger Fußball nichts zu tun hat, so liest, als sei die Stadionbenennung ein Zeichen dafür, dass Chemie ein Nazi-Verein sei. Richtig ist ganz evident das Gegenteil.