"Wenn das der Alfred Kunze wüsste ..."
Irrwitzig, torlos, friedlich: 2690 Zuschauer sind beim ersten Leutzscher Stadtteil-Derby dabei
Leipzig. Das gibt's nur in Leipzig: Es ist nicht genug Geld für einen Fußball-Club da, also werden zwei daraus. Alsbald krochen aus dem faulen Ei Sachsen Leipzig zwei seltsam fidele Kücken. Die führen ein reges Eigenleben. Den Rückweg ins Nest? Haben sie verlegt. Leipzig, wie es singt und lacht ...
Als sich die BSG Chemie und die SG Leipzig-Leutzsch gestern im Alfred-Kunze-Sportpark zum ersten offiziellen Spiel trafen, lockten Novum und Irrwitz. Der MDR seilte sich dafür in die sechste Liga hinab (Bericht heute im Sachsenspiegel), auch die Süddeutsche Zeitung und die angeschrägten 11Freunde ließen sich die Nummer nicht entgehen. Zwei positive Nachrichten sind dem Besuch so Gott will nicht entgangen. In Leutzsch wird noch Fußball gespielt, und es flogen weder Böller noch Fäuste. Vorkehrungen wie beiden Großen: Sicherheitsberatungen, Fan-Trennung, Alkoholverbot: All das traf auf fruchtbaren Boden, die 200 Ordnungshüter hatten alles im Griff.
Weil sich auch auf dem Rasen wenig tat und keine Tore fielen, hatten die 2690 Zuschauer ausreichend Zeit, elementare Fragen zu beantworten.
Wie lange halten Mütze und Gesundheit den eisigen Winden stand?
Wie kam es noch gleich zum Geniestreich mit den zwei Mannschaften im Leutzscher Holz?
Und wann werfen die beiden Clubs Eitelkeiten, ideologische und emotionale Verirrungen über Bord und machen wieder gemeinsame Sache?
"Ich sehe das momentan noch nicht", sagt SGL-Boss Jamal Engel nach dem Abpfiff. "Nicht in dieser Saison und auch nicht in der nächsten. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren." Laut Engel sei das Gros der BSG-Fanszene, insbesondere die in den Gremien vertretenen und entsprechend mächtigen Diablos, nicht an einer Zusammenarbeit interessiert.
BSG-Boss Oliver Krause hat einen anderen Blick auf die Angelegenheit. In der Vergangenheit sei "einiges vorgefallen", die Diablos hätten sich nicht "aus Jux und Tollerei" vom FC Sachen abgewendet. "Und unsere Fans können sehr wohl über den Tellerrand hinausgucken." Dort sehen sie zur Zeit nur eines: ihre BSG. Die schießt trotz zweier Chancen von Matthias van der Weth kein Tor, wird von den rund 1800 BSG-Sympathisanten unter den 2700 Fans hymnisch gefeiert. Geht es hier um Fußball oder um Weltanschauung?
Für Uwe Thomas ist der Zustand mit zwei Vereinen "unerträglich". Der 51-Jährige ist seit Kindesbeinen glühender Anhänger der BSG, war mal Manager beim FC Sachsen ("Ich war der Beste"), ist bei jedem Heimspiel dabei. Und er unterstützt Chemie mit Geld und guten Worten. "Da wusste ich aber noch nicht, dass die SG Leutzsch gegründet wird." Wenn die Teilung anhält, steigt er aus. "Außerhalb von Leipzig denken doch alle, wir haben einen Vogel." Nicht nur dort.
Frank Müller friert sich neben seinem Freund Thomas einen ab. Der 47-Jährige ist im Aufsichtsrat des 1. FC Lok, erinnert an die Lok-Geburtsstunde nach der VfB-Pleite, lobt Hebamme Steffen Kubald. "Steffen hat es damals geschafft, alle hinter der Lok-Idee zu vereinen." Das haben sie in Leutzsch nicht geschafft. Das werden sie nach Stand der Dinge auf absehbare Zeit auch nicht mehr schaffen.
"Es ist schon Wahnsinn", sagt Leipzigs Fußball-Ikone Hans Leitzke, der sich um den Nachwuchs der BSG kümmert. "Wenn das der Alfred Kunze wüsste ..." Guido Schäfer