LVZ von morgen :
Flucht auf den letzten Pfiff
Es ist der 16. Dezember 1966, mitten im Kalten Krieg: Klaus Günther, DDR-Meister und -Pokalsieger mit Chemie Leipzig, flieht in den Westen. Bei Borussia Dortmund wird der Torwart zum ersten deutsch-deutschen Fußballstar. Von Frank Müller
Amsterdam-Schiphol, Transitraum. Dem damaligen Torwart von Chemie Leipzig ist eines klar: Er muss hier raus, wenn er sein Vorhaben noch umsetzen will. Mit seiner Mannschaft kommt er vom Europacup-Spiel bei Standard Lüttich. Dort ist der amtierende DDR-Pokalsieger nach einem 0:1 im Rückspiel knapp ausgeschieden. Nach einem Tag Zwischenaufenthalt in Brüssel soll gleich der Flug nach Ostberlin, nach Hause gehen. Günther verlässt unbemerkt das Flughafengebäude, stößt auf einen Zaun, der für den sportlichen 25-Jährigen aber kein Problem darstellt. Er läuft. Er schaut sich immer wieder um. Noch ist der Westen fern. In einer Baracke helfen ihm Konstrukteure, geistesgegenwärtig rufen sie die Airport-Polizei, die ihn in Sicherheit bringen soll. Doch damit ist die Gefahr keineswegs vorbei. "Der Kommissar ließ mich solange bei sich warten, bis unser Flugzeug wegen meines Fehlens mit deutlicher Verspätung endlich abflog."
Da tut sich eine weitere Hürde auf: Günther hat nicht bedacht, dass er für die Niederlande kein Visum besitzt, nur für Belgien. Er steht sogar im Verdacht, ein Ost-Spion zu sein. Schließlich schiebt man ihn buchstäblich in die Bundesrepublik ab. "Die Holländer fuhren mich mit dem Auto an die Grenze, und bezahlten mir sogar die Zugfahrkarte nach Baden-Baden, von wo ich zu meinem Onkel nach Gaggenau weiterfuhr. Dort erwartete man mich gar nicht mehr und dachte, ich wäre wieder nach Hause geflogen."
Günther ist kein Einzelfall - immer wieder versuchen Fußballer bei Auswärtsspielen, im Westen zu bleiben. Doch Günther ist der erste Prominente: DDR-Meister und DDR-Pokalsieger mit der BSG Chemie Leipzig. Ein Vorbild, ein Idol - das sein Können in der gerade gegründeten Bundesliga beweisen will. Er möchte gegen Stürmer wie Seeler oder Brunnenmeier, den Torschützenkönig der abgelaufenen Saison, seine Glanzparaden zeigen; er möchte den Beckenbauers, Netzers, Konietzkas und Emmerichs, deren Spiele er im Radio verfolgt, die Stirn bieten. Es geht ihm nicht ums Geld, sondern um Sport, um Reisefreiheit. Bis zum Mauerfall wird er der einzige prominente Leipziger Fußballer bleiben, der diesen Schritt während seiner Laufbahn geht.
Begonnen hat alles in Böhlen, von wo aus er über die Stationen Stendal und wieder Böhlen 1963 bei Chemie Leipzig landet. Er wird sofort Stammtorwart, steht in der legendären Meistersaison 1963/64 im Kasten der Leutzscher. Den nächsten Titel holen die Chemiker, der sogenannte Rest von Leipzig, zwei Jahre später: den FDGB-Pokal. Das bringt den Grün-Weißen erneut die Teilnahme am Europacup und - für Günther die Fluchtchance. Doch der Leipziger hat Pech: In der ersten Runde bekommt Chemie mit Legia Warschau ein Ost-Team zugelost. Der DDR-Pokalsieger erreicht jedoch die nächste Runde, und hier heißt der Gegner Standard Lüttich. Als die Auslosung bekannt wird, steht für den Chemie-Torwart fest: Er bleibt in Belgien. "Man musste natürlich vorsichtig sein. Selbst mit meinem Freund Manfred Richter, der ähnliche Gedanken wie ich hegte, sprach ich ab diesem Moment nicht mehr darüber", beschreibt Günther das aufkeimende Misstrauen.
Er ahnt nicht, dass ihn die Stasi da schon längst als Wackelkandidat auf dem Kieker hat. Und zwar aus einem recht unscheinbaren Grund, wie er nach der Wende erfahren wird: "Ich war vor dem Mauerbau auf einer Fahrt nach Berlin, wo ich jemanden besuchen wollte, aus dem Zug geholt worden. Von da an hatte ich einen Vermerk." Wegen dieser eher lapidaren Geschichte soll er nicht ins Aufgebot für das Lüttich-Spiel kommen. Als das ruchbar wird, macht sich Mannschafts-Kapitän Manfred Walter für Günther stark. "Ich sagte zum damaligen Generalsekretär des DDR-Fußball-Verbands, zu dem ich durch Auswahlspiele einen guten Draht hatte: Wenn wir Klaus zu Hause lassen, können wir uns die ganze Reise sparen, zumal unser Ersatztorwart Dieter Sommer verletzt war", erzählt Walter. Dessen Veto hat Erfolg. Doch von all diesen Verstrickungen ahnt Günther in jenen Tagen nichts. Und auch nicht, dass die Trainerlegende Alfred Kunze neben Walter für ihn bürgt. "Selbstverständlich wollte ich niemandem dabei schaden, aber ich konnte es natürlich auch keinem sagen, nicht einmal meinen Eltern", sagt der damalige Torwart über die wichtigste Entscheidung seines Lebens.
In Brüssel bieten sich tatsächlich einige Gelegenheiten, die Seiten zu wechseln. Doch Günther zaudert. Er fühlt sich beobachtet. Ständig und überall. Zunächst, als seine Mannschaftskollegen ihn mit ins Kino nehmen wollen, wo er hätte türmen können. Und dann in einer U-Bahn. "Ich saß schon in der Bahn, doch die fuhr ewig nicht los, was ich auf mich bezog. Da bekam ich Panik und mischte mich wieder unter die Mannschaft - es hatte noch keiner bemerkt." Die Zeit läuft ihm davon, schließlich ergreift er die letzte Gelegenheit: In Amsterdam, es ist die eigentlich komplizierteste Variante.
Die DDR will sich mit der Flucht nicht abfinden: "Es begann ein Telefonterror. Unablässig rief jemand aus Leipzig an und wollte mich zur Rückkehr überreden." Irgendwann willigen sein Onkel, bei dem er wohnt, und er ein, sich mit Günthers Vater, dem man keine Wahl lässt, mit Trainer Kunze und Funktionären an der Grenze zu treffen. Die Situation in Herleshausen gräbt sich in seine Erinnerungen ein: "Wir sollten in einen Raum auf der Ostseite kommen, was wir natürlich nicht taten. Schließlich wurde mein Vater ohne Papiere auf die Westseite geschickt, aber da waren wir schon wieder weg. Deshalb hat man ihn einen Tag vor Heiligabend nach Gaggenau geschickt. Dort habe ich ihm meine DDR-Pässe mitgegeben." An Günthers Entscheidung ändert das alles also nichts. Neben seinen Eltern, die er Mitte der 80er Jahre als Rentner in den Westen nachholt, hat er auch seine Freundin zurückgelassen. "Ich hatte ihr, und nur ihr, meine Pläne in der Nacht vor der Reise offenbart, was ich schon kurz darauf für einen Fehler hielt." Doch sein Zwiespalt ist unbegründet, sie hält dicht. "Wir haben uns noch eine Weile geschrieben, das dann aber beendet, weil wir wussten, es hat keinen Zweck."
Als seine geglückte Flucht publik wird, sind sofort einige Bundesliga-Vereine an dem Meister-Torwart interessiert, der VfB Stuttgart meldet sich als erster Verein. "Ich ging zum Probetraining. Die Schwaben wollten Chemie 100000 Mark, die damals höchstzulässige Ablösesumme, zahlen, um die wegen des Verbandswechsels fällige einjährige Sperre zu umgehen." Chemie muss aus politischen Gründen ablehnen. Damit ist für den damals 26-Jährigen die Stuttgarter Offerte dahin. Er hält sich beim Karlsruher SC fit, geht im Juli 1968 zu Borussia Dortmund. Schon damals ein Spitzen-Klub, für den er drei Jahre spielt - mit Emmerich, Wosab, Held und der BVB-Legende Paul. Günther schafft es damit zum ersten deutsch-deutschen Fußballstar.
In den 70er Jahren sattelt der gelernte Heizungsinstallateur zum kaufmännischen Angestellten um und verdient in der Firma des Gaggenauer Vereinspräsidenten gutes Geld.
"Dem holländischen Kommissar bin ich ewig dankbar, ich habe ihm oft Fußballkarten aus Dortmund geschickt." Seine alten Chemie-Kameraden trifft Günther am 10. Mai 1990, dem 26. Jahrestag des Titelgewinns, erstmals wieder. "Ich hatte nie daran geglaubt, noch einmal nach Leipzig zu kommen."
Dem holländischen Kommissar bin ich ewig dankbar, ich habe ihm oft Fußballkarten geschickt.
Ich saß in Brüssel schon in der U-Bahn, doch die fuhr ewig nicht los. Da bekam ich Panik.
Klaus Günther mit Glanzparade bei einem Spiel von Borussia Dortmund im Berliner Olympia-Stadion. Foto: Privatarchiv
Klaus Günther lebt in Gaggenau, kommt aber stets zur Meisterfeier nach Leipzig.